Von Antiallergika, Milchreis und meinem eigenen Zimmer...
Ich habe die erste Nacht in den letzten viereinhalb Monaten hinter mir, in der mein Rucksack nicht direkt neben mir und meinem Kopfpolster schlief, in der ich mich und meine zwei Meter fuenfzig Spannweite in einem richtigen Bett und nach allen vier Himmelsrichtungen ausbreitete, in der ich um Mitternacht und ohne jedes Zeitlimit scheinbar endlose Emails in acht verschiedene Laender schreiben kann und in der meine Unterhosen sogar vom australischen Feinstaub befreit wurden. Eine Basis fuer die naechsten Wochen, ein eigenes Zimmer ohne betrunkene Schotten, schnarchende Koreaner, duenstende Spanier oder inplastiksackerlherumwuehlenden Deutschen. Irgendwie das Gefuehl, nachhause gekommen zu sein, zu einer fuenfkoepfigen Familie, die ich zwar nicht kenne, aber mehr als enthusiastisch bin, sie kennen zu lernen. Da ich noch eine Zeit hier bin dehne ich mich jetzt dazu noch nicht zusehr aus sondern - first things first - versetze mich nocheinmal kurz zurueck in die nahe Vergangenheit fern von Zweiduschentaeglich-Luxus und Tee mit Weihnachtskeksen vorm Schlafengehen (in mein 220 mal 140 Ikea Bett!!!). Abel Tasman, eine weitere Miss New Zealand unter den Nationalparks, und ein Track entlang der Kueste, der mich nochmehr dazu motiviert, mir als erste Anschaffung back home einen Wanderfuehrer fuer die Alpen und vielleicht angemessene Schuhe zuzulegen. Mit gewoehnlicher Routine auf mein Glueck zu spekulieren ging wie immer alles wunderbar, vom brillianten Wetter bis hin zum paradiesischen Ocean Kajaking, vom richtigen Timing, bei einer Seeloewengeburt dabei zu sein bis hin zum abenteuerlich falschen Timing, durch huefthohes Wasser zu warten um noch vor der Flut weiter zu kommen. Einfach schoen. Banal, ich weiss, aber mehr faellt mir dazu nicht ein. Man geht und geht und alles wird nur noch unpackbarer, ich habe jedes Interesse an der Faehigkeit verloren, alle Eindruecke irgendwie zwanghaft noch in Worte fassen zu muessen. Wie ein Impfstoff bleiben einem solche Erinnerungen entweder immer erhalten, oder man muss sie nach einer Zeit neu auffrischen. Nun, ich weiss nicht, vor welcher Krankheit mich Neuseeland und diese Reise bewahren wird, aber wahrscheinlich ist es das eventuelle Austrocknen und Verlieren von Interesse am Leben und an dieser Welt. Die vollkommene Abstumpfung und das Sich-selbst-Ausliefern an ein "Ist mir eigentlich egal". Und es sind auch die kleinen Dinge, die eine solche Impfung (eigenartig, wie sich das unbeschreibliche Ganze ploetzlich in ein einziges Wort fassen lassen) kraeftig machen. Die "unterhaltsamen" (wie schrecklich verstaubt dieses Wort klingt), die "lustigen" (wie schrecklich bloed dieses Wort klingt), die, die von unseren Standards nicht als "intellektuell" oder "wertvoll" (wie schrecklich verfehlt dieses Wort oft klingen kann) betrachtet werden. Alleine aufzubrechen heisst keinesfalls, alleine zu reisen. Nur, dass ich alleine sein kann, wenn ich es will. Und das verstehen viele nicht, fuer mich stellt es aber einen Grundgedanken dieser Reise dar. Wo komme ich, gedanklich und physisch, an, nachdem ich zehn Stunden durch den Wald und entlang der Kueste gelaufen bin. Erst mal bei mir selbst, denn nach so einem Tag ist die Liste an Ideen, Erinnerungen, neunen Zielen und Reflexionen lange, ganz abgesehen von den gewonnenen sinnlichen Eindruecken der Umgebung. Aber, auch wenn mir danach waere, falle ich danach nicht totmuede ins Bett (oder was auch immer), sondern gelange mitten in eine Gruppe 15, 16, 18jaehrige Schueler, die wiederum ihre gewonnen Erfahrung des letzten Schuljahres (oder was auch immer) auf einem oeffentlichen Campingground feiern und dem Begriff 'ausgelassen' eine neue Definition verleihen. Ich steige mitten ein ins Geschehen, reihe mich irgendwo an der zwei Drittel Schueler, ein Drittel Lehrer Grenze ein und bin als ueberdimensionaler Tanzbaer from overseas ein begehrtes Ziel in der Milchreisschlacht. Waehrend ein melancholischer Suizidanwaerter mit rosa Cowboyhut auf seiner Gitarre nicht ueber die ersten Takte von "Tears in Heaven" herauskommt und diese in einer endlosen Endlosschleife wiederholt (mit obligatem Seufzen nach der dritten Note), debattieren Religions- und BiologieprofessorInnen schon ueber die Reaktion der baldigen Grosseltern auf die fruehe Schwangerschaft ihrer vierzehnjaehrigen Tochter, die soeben mit einem, ebenfalls vierzehnjaehrigen, Maori an den Strand verschwunden ist. Herrlich, einfach herrlich, das Geschehen, ich fuehle mich wie in einem grossartigen Theaterstueck. Aber solche Geschichten kann man nicht schreiben, sie schreibt das Leben selbst. Eventuell landet man dann auch am Strand, schaut in die Sterne und traeumt, obwohl man hellwach ist und der Himmel hinter einer Wolkendecke unsichtbar ist. Der Abend, den ich eigentlich so frueh wie moeglich durch Schlaf beenden wollte, wird zu einem der besten dieser Reise. Fuer einige Stunden dachte ich, ein paar Jahre juenger zu sein, und es fuehlt sich gut an. Nicht einmal drei Wochen war ich auf der Suedinsel, und das ist bei dem Angebot an Schoenheit dort eigentlich ein Verbrechen. Aber trotzdem habe ich wieder einmal Eindruck, in dieser Zeit mehr gesehen zu haben, als andere in einem ganzen Jahr. Jetzt bin ich im warmen Norden, lebe hier als Teil einer Familie, zwar ohne mindestenszweiAbenteuerproTag-Politik, dafuer mit den Annehmlichkeiten des alltaeglichen Lebens. Das alltaegliche Leben... heute habe ich die ersten Antihistamine genommen, ueberhaupt die ersten Medikamente dieser Reise. Vielleicht ist es das, worauf ich allergisch bin. In den Bergen, im Dschungel, im Wald, nirgendwo hatte ich Cyrtek noetig, nicht mal Taschentuecher. Aber egal, im Moment rede ich mich noch auf die Katze aus. Bis Weihnachten ist das in Ordnung, danach gehts in die Endphase der Impftherapie. Glaubt es oder nicht, ich habe heute das achte Fenster meines Milka-Adventkalenders geoeffnet.
snake.gg - 8. Dez, 11:41