Sonntag, 1. April 2007

Addio del Passato

oder
Versuch zu einem Epilog


Vier Tage bin ich wieder da, eine Woche, dreizehn Tage, zwei Wochen, drei, mittlerweile über ein Monat. Jedes Mal, wenn ich beginne, diesen einen, letzten, Eintrag zu schreiben breche ich nach einer kurzen Weile wieder ab, da die Sinnhaftigkeit eines jeden weiteren Wortes für mich in Frage steht. Eine Zusammenfassung von schon an sich unfass- und -beschreibbaren Erfahrungen zu bieten, einen Schluss, ist genauso widersinnig wie ein und dieselbe Geschichte sooft zu erzählen, bis ich mich selbst in ein Muster verlaufe, eine wahre Erzählung schaffe an einer Stelle, an der eigentlich erzählte Wahrheit stehen sollte, und so selbst beginne, das eigentlich Wahre zu vergessen und das für mich Wesentliche zu übergehen. In den letzten Wochen ist mir nichts so bewusst geworden wie die Zweidimensionalität der Vergangenheit. Ich sitze in einem Cafe am Michaelerplatz und erzähle eine Geschichte. In einem Tonfall, in bestimmten Sätzen, mit einer Klimax, mit einer Reflexion. Am nächsten Tag sitze ich wieder im selben Cafe, mir gegenüber sitzt ein anderes Gesicht. Die gleiche Frage ruft dieselbe Geschichte hervor. Im selben Tonfall, mit denselben Worten, mit derselben Klimax. Vom Erleber werde ich zum Erzähler, und fühle mich selbst wieder so fest in den Alltag verankert, wie die Schrauben, die meine Weltkarte tragen und durch Dübel in der Wand gehalten werden. Die Zeit davor, das was vor dem Beginn der Reise am 28. Juli stand, scheint mir heute realitätsnäher und greifbarer als das, was ich in den letzten sieben Monaten erlebt, gesehen und erfahren habe. Wie wenn man während einer REM Phase aus einem Traum aufgeweckt wird bin ich vor gut fünf Wochen in Wien gelandet, habe meinen Rucksack ein letztes Mal ausgepackt, aber anstelle ihn wieder einzupacken in das hinterste und unterste Fach meines Kleiderschranks gestellt, bevor ich ihn doch wieder herausgeholt habe, ganz einfach um ihn noch ein wenig dastehen zu haben, präsent zu spüren. Meine Schuhsohlen habe ich von den daran hängenden Lederfetzen abgetrennt und eingerahmt, meine Kamera nicht mehr eingeschalten seit ich die letzten Fotos aus New York auf meinen Laptop übertragen habe. Von all den Emailadressen, die ich auf unzähligen Papierstücken aus der ganzen Welt gesammelt habe, habe ich die Hälfte in den Papierkorb geworfen, da ich mich nicht mehr daran erinnern kann, wer sie mir gegeben hat. Vor nicht einmal zwei Monaten noch fuhr ich in Costa Rica an einer Dole Bananenplantage vorbei, heute sehe ich im Fernsehen Werbung für Dole Bananen aus Costa Rica und kaufe sie anschließend beim Interspar. Als Tribut, als Geste, oder ganz einfach als Andenken. Nach wie vor schlägt irgendetwas von innen nach außen, wenn ich einen roten Toyota Corolla sehe. Was bleibt, sind Fotos. Knapp fünfzehn tausend. Und Worte. Drei Taschenbücher mit einem Lederband darum, von denen ich mir vornahm, sie bis zum nächsten Großprojekt nicht zu lesen. Fünfhundert Emails, die ausgedruckt vor mir liegen, ein paar Eintritts- und Ansichtskarten, diese und jene kleinen Kleinigkeiten, die im Aufwand, sie mit nachhause zu nehmen, geringer waren als im Wert, sie für immer in einer blaugestreiften Kartonbox aufzubewahren. Und Erinnerungen, die wesentlich einfacher zu handhaben sind, als Emails, Bücher oder Fotos. Weder muss man sie ordnen und auf ein anschaubares Minimum minimieren, noch muss man sie suchen, ausdrucken oder sich damit abmühen, seine eigene Handschrift zu lesen. Sie sind einfach da, konkret in einem verschwommenen Äther, irgendwo versteckt, und tauchen doch immer zum richtigen Zeitpunkt auf. Wenn ich im Nieselregen auf einer Brücke über den Donaukanal gehe und an laotische Gewitter denken muss. Wenn ich um zwei in der Früh alleine am Minoritenplatz stehe und mir nächtliches Baden in australischen Schluchten in den Sinn kommt. Wenn mir in einem Freundeskreis der eine oder andere Charakter fehlt, dessen Stelle dieser aus England oder jener aus Argentinien perfekt füllen würde.
Wo was wann. Warum überhaupt. Wozu war das letzte halbe Jahr eigentlich gut, wenn nicht alleine, um meinen zurückstolzierenden Alltag durch unvorhersehbare Erinnerungswellen uneben und anspruchsvoller zu machen, und oftmals sogar aus dem Sinn zu rufen. Mehr eine Aussage als eine Frage, denke ich. Ich habe seit einiger Zeit entdeckt, dass ich weder Erklärungen noch Begründungen mag. Am liebsten habe ich die Dinge so, wie sie dastehen. Offen und pur, unerkennbar und doch ganz klar. Nie aufgeklärt, immer mit einem unsichtbaren Fragezeichen dahinter und der Möglichkeit, die Dinge um ein, zwei oder mehrere Ebenen zu erweitern, sodass man sie mit anderen Gedanken verbinden kann, und damit Netzwerke erstellt.
Ich dachte vom Reisen immer als eine Form des Lebens, aber ich habe entdeckt, dass es eine Alternative ist. Leben ist das, was man tut. Je nach Anschauung entweder das, was man tun muss, oder das, was man tun darf. Auf jeden Fall aber etwas, dem man sich stellen muss. Reisen ist ein selbst geschaffenes Privileg. Man kann auch ohne auskommen, aber wenn man die Chance erkennt, wäre es närrisch, sie nicht zu nutzen. Der große Unterschied nun zwischen dem Leben und dem Reisen ist, dass man beim Leben Teil eines Prozesses ist, den man, so fest ist man in ihm integriert, kaum als solchen erkennen mag. Beim Reisen stellt man sich bewusst einem solchen Prozess gegenüber, erlebt ein sich fortbewegendes Bild, das sich ständig verändert und in gewisser Weise selbst lebt. Die Welt ist lebendig, habe ich festgestellt, und aktiver, als ich sie eingeschätzt hätte.
Die letzten Monate waren eine Auseinandersetzung. Mit Menschen, mit Ländern, mit Kulturen, mit mir selbst. Eine Aussetzung gegenüber all diesen Dingen, die wirken und gewisse Reaktionen hervorrufen sollten. Die Provokation einer Entwicklung, die an mehrere Punkte, aber nie an ein einziges Ziel führen sollte. Ich glaube, dass das gelungen ist. „I went to the woods because I wished to live deliberately,” sagt Thoreau, “to front only the essential facts of life, and see if I could not learn what it had to teach, and not, when I came to die, discover that I had not lived.”

Henry David Thoreau

I went to the woods because I wished to live deliberately, to front only the essential facts of life, and see if I could not learn what it had to teach, and not, when I came to die, discover that I had not lived.

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Zuletzt aktualisiert: 12. Dez, 15:54

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