Samstag, 10. Februar 2007

My Heart will go on...

Nach einer viereinhalbstuendigen Bootsfahrt auf einem engen Kanal durch den Dschungel komme ich in einem Dorf mit 690 Einwohnern an, das dafuer weltbekannt ist, dass sich gelegentlich einhundertachtzig Kilo schwere Schildkroeten den Strand hinaufwuzeln um hunderte Ping Pong Baelle o.ae. zu vergraben. Ich wundere mich ueber die Natur, warum die Dinge so sind, wie sie sind, warum sie so aussehen, wie sie aussehen, und trotzdem koennte ich sie mir nicht anders vorstellen, muss ihnen eine gewisse Perfektion anerkennen. Und Schoenheit.
Ich gehe durch das Dorf, aus einem Fensterrahmen ohne Fenster toent Celine Dion's "My Heart will go on". Zwanzig Schritt weiter toent das selbe Lied aus einem unterschiedlichen Haus. Fuenf Minuten spaeter ist es nochimmer zu hoeren, aus einem dritten Haus, das ich passiere. Was ist denn hier los, denk ich mir, ich dachte ich bin mitten im Dschungel. Bin ich auch, aber mein nichtvorhandenes Spanisch hilft mir an der Dorfinformationstafel zu entziffern, dass amerikanische Entwicklungshelfer soeben eine Schulband gegruendet haben und den Titanic Soundtrack einstudieren um die Lebensqualitaet der Menschen hier zu verbessern. Das halt ich nicht aus, denk ich mir, ich leih mir ein Kajak und verschwinde tiefer in den Dschungel, dorthin, wo es keine Entwicklungshelfer gibt, benoetigt, dort wo man den Dingen am besten tut, indem man sie in Ruhe laesst. Tortuguero ist der letzte Regenwald, dem ich mich auf dieser Reise aussetze, und stellt mit seiner alles uebertreffenden Tierwelt einen unglaublichen Abschluss dar. Man stelle sich einen natuerlich angelegten Tiergarten ohne Zaeune vor, verdopple die Anzahl und Vielfalt der Arten und halbiere die Besucher, dann ist man immernoch weit von dem entfernt, was ich von Tortuguero in Erinnerung behalten werde. Leguane, Affen, Kaimane, Fischotter, Tukane und hundert ander Voegel, und das sind nur diejenigen, die sich gerne herzeigen. In so einer Umgebung vergisst man die Zeit, und das ist genau das, was ich im Moment brauche. Ich verbringe einen ganzen Nachmittag, Tag, zwei Tage dort und bekomme nicht genug, wundere mich und staune. In der letzten Woche habe ich mehr Schlangen gesehen als auf dem Rest der ganzen Reise, werde von der Euphorie zum Leichtsinn getrieben und lasse mir erst im Nachhinein von einem Biologiestudenten erklaeren, welche Dosis Nervengift ich da von zehn Zentimetern Entfernung begutaeugle und auf meiner Memorycard neben ausbrechenden Vulkanen, mittelamerikanischem Marktgeschehen und jagenden Giftpfeilfroeschen verewige. Ich geniesse die letzten Menschen und Charaktere, die ich auf dieser Reise suche und kennenlerne. Eine franzoesische Fernsehjournalistin, eine Biochemikerin und ein Landkartenzeichner aus Amerika, ein Kinderarzt aus Deutschland, zwei Aussteiger aus Wien, die in Panama selbstgeflochtene Armbaender auf der Strasse verkaufen, ein Costa Ricanischer Security, der sich zur Ruhe gesetzt hat und nun die Jugendherberge seiner Mutter bewacht. Was werde ich vermissen, die Menschen selbst oder einfach nur die Intensitaet, mit der ich sie treffe? Nein, sag ich mir, ich bin nicht der Typ Mensch, der etwas vermisst, obwohl ich gerne daran zurueckdenke. Wenn ich uebermorgen in das Flugzeug nach New York steige und dort nach sieben Monaten auf einen Teil meiner Familie treffe geht ein Abschnitt zu Ende, beginnt ein neuer. Das Erleben an sich wird abgeloest von einer Phase der Erzaehlung, die Phase der Erinnerung. Wenn ich beginne darueber zu berichten, was war und was gewesen ist, wird keines dieser Erlebnisse jemals wieder so unmittelbar und echt sein, wie es sich im Moment noch anfuehlt. Zur Realitaet hinzu kommt der Rueckblick, unter die Erinnerung mischen sich Assoziationen. Ich fuerchte mich schon jetzt vor Fragen wie "Wie war's" oder "Wo hat's dir am besten gefallen". Erzaehlungen und Geschichten setzen Schwerpunkte auf gewisse Erlebnisse, die sich leichter und spannender vermitteln lassen, verdraengen aber oft die Kleinigkeiten und Details, die eine Erfahrung dazu machen, was sie ist. Am liebsten wuerde ich entweder in einem siebenmonatigen Vortrag das komplette Programm erzaehlen oder aber gar nichts, einfach eine Menge Flugtickets besorgen und jeden Menschen selbst dorthin schicken, ihn selbst sehen lassen, sie selbst empfinden lassen.
Drei Wochen in Costa Rica inkl. Abstecher in die Nachbarlaender sind ein Verbrechen. Ein groesseres Verbrechen als fuenfeinhalb Wochen Neuseeland, ein Serienmord im Vergleich zu zwei Monaten Suedostasien. Was Lateinamerika heisst weiss ich immer noch nicht, wie soll man das auch herausfinden in so kurzer Zeit. Als ich heute allerdings erneut durch die Strassen San Joses ging empfand ich viele Dinge als normal, die mir vor drei Wochen noch stoerend vorkamen, und schaetzte andere Dinge in einem besonderen Ausmass, die mir das letzte mal wiederum normal und gewoehnlich erschienen. Mehr Zeit und Spanisch, das ist die Grundvoraussetzung fuer die naechste grosse Reise hierher, denn im Moment kann ich es nichteinmal dem verfehlten Trickbetrueger uebelnehmen, dass er mich mit meinem "I love SF" T-Shirt sowohl damals als auch heute plump und ungeschickt wie eine Weihnachtsgans ausnehmen wollte. Die selbe Tour, die selbe Strassenecke. Die selbe Stimme. Ich mag mich schwer tun, mich an die hundert Namen der Menschen zu erinnern, auf die ich in den letzten Monaten gestossen bin, aber ihre Stimmen vergesse ich nicht, die Stimme ist die eine Koerpereigenschaft, die mir am staerksten in Gedanken haengen bleibt, mein persoenliches Souvenir, das ich mir von jedem Kontakt aufbehalte. Appropros Sourvenirs. Hier und dort merke ich schon, dass es mit der Zeit Zeit wird, nachhause zu gehen. Ohne Probleme koennte ich noch zwei Monate, sechs Monate oder ein Jahr weiterreisen, und doch komme ich mir langsam vor wie ein wandelnder globaler Souvenirtandler. Ein dutzend T-Shirts, eine Ukulele, zwei Huete, ein Ring, ein Stueck Holz, ein Stoffaffe, ein Kilogramm Kaffe und wasauchimmer ich da sonst noch so in den tiefsten Abgruenden meines Rucksacks mit mir herumschleppe. Es ist Zeit, auszuladen. Ich dachte immer, dass man deshalb an einen Ort und ein Zuhause zurueckkehrt, um aufzutanken, um etwas aufzusammeln, das man zuerueckgelassen hat, und doch verhaelt sich das Reisen wie ein Perpetuum Mobile, ermoeglicht einem sich von neuen, unbekannten Dingen zu ernaehren. Ich mache mich auf den Heimweg, weil es Zeit dazu ist, zumindest versuche ich mir das auf allen Ebenen einzureden.

Henry David Thoreau

I went to the woods because I wished to live deliberately, to front only the essential facts of life, and see if I could not learn what it had to teach, and not, when I came to die, discover that I had not lived.

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Zuletzt aktualisiert: 12. Dez, 15:54

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